Der Grund für die Integration eines Schildes liegt auf der Hand: Wenn man einem mit einer Blankwaffe bewaffneten Gegner gegenübersteht, ist die Abwehr seiner Angriffe, Hiebe und Stiche mit einem Schild weitaus leichter als mit der eigenen Waffe abzuwehren. Im Vergleich zu Blocks mit der Waffe sind Schildabwehrtaktiken auch leichter zu erlernen, weil sie aufgrund ihrer großen Fläche mehr Spielraum hinsichtlich Irrtümer offerieren.
Selbstverteidigung mit Schild: Nicht mehr zeitgemäß?
Klar, in der heutigen Welt dürfte es kaum angebracht, höchst auffällig und somit mehr als unpraktisch sein, ein klassisches Kampfschild mit sich zu führen, doch das Konzept an sich ist längst noch nicht ausgestorben. Einer meiner Ausbilder und Trainingspartner, Michael Rigg, lebte vor vielen, vielen Jahren in New York City. In jenen Tagen hatte er noch lange Haare und war häufig in Bekleidung gewandet, die man heute wohl unter dem Begriff "Hippie-Mode" zusammenfassen würde. Fester Bestandteil dieses Stils war eine große Umhängetasche, die er sich tagtäglich um die Schulter hing. Eines Tages auf dem Weg von zu Hause zur Arbeit wurde er von einem Kriminellen überfallen, der mit einem Messer vor ihm herumfuchtelte und sein Geld verlangte. Auch wenn Rigg voller Weisheit sein Geld unverzüglich aushändigte, war der Räuber wohl mit seiner Beute nicht zufrieden und stieß sein Messer in Richtung von Riggs Bauch. Geistesgegenwärtig reagierte Rigg mit purem Instinkt, wich zurück und schwang dabei mehr oder weniger unbeabsichtigt seine Umhängetasche vor seinen Oberkörper. Glücklicherweise enthielt die Tasche auch Bücher und Tageszeitungen, so dass der Messerstich aufgefangen, gestoppt und somit Riggs Leben wahrscheinlich gerettet wurde.
Modernes Streitschild zur Abwehr von Messern
Wenn wir die Lehre, die wir aus diesem Vorfall ziehen können, mit den Taktiken der traditionellen Schildabwehr und Trends in der heutigen Mode kombinieren, dann dürfte das aktuelle Äquivalent des mittelalterlichen Streitschildes der Rucksack oder eine der vielen "taktischen" Umhängetaschen sein. Leichtgewichtig, bequem, zweckmäßig und oftmals vollgepackt mit Laptop, Büromaterial oder Literatur aller Art, kann ein Rucksack ein sehr effektives Alltagswerkzeug sein, wenn man gezwungen ist, einen Messerangriff abzuwehren. Wie bei jedem anderen Selbstverteidigungsinstrument auch, spielt es eine entscheidende Rolle, wie man den Rucksack trägt, um ihn im Falle eines Falles schnell zugriffsbereit zum Einsatz bringen zu können. Die beste Art und Weise ist es, den Rucksack mit einem Gurt auf der nicht-dominanten Körperseite/Schulter (also auf der linken Seite, wenn man Rechtshänder ist) zu tragen und dabei den Daumen unter dem Gurt einzuhaken. Fühlt man sich in einer Situation potentiell bedroht, zieht man in einer flüssigen Bewegung den Rucksack von der Schulter und positioniert ihn vor seinem Körper. Benutzt man beide Schultergurte des Rucksacks, weil so die Last besser zu tragen ist, dann kann man bei geahnter Gefahr in Verzug immer noch auf die einseitige Trageweise umschwenken. Besitzt der Rucksack Schnellöffnungsmechanismen an den Gurten, kann man auch den rechten Gurt des beidseitig getragenen Rucksacks schnell lösen, um ihn dann schützend vor den Körper zu schwenken. Der Rucksack wird im Verteidigungsfall auf seiner Rückseite mit beiden Händen gehalten, um ihn und sein Gewicht bei schnellen Bewegungen besser kontrollieren zu können.
Schildtaktiken zur Messerabwehr
Mit dem Rucksack in korrekter Schutzposition vor unserem Oberkörper bringen wir eine nicht so leicht zu überwindende Barriere zwischen uns und das Messer des Angreifers. Um die Vorteile unseres Selbstverteidigungswerkzeuges voll ausnützen zu können, sollten wir die Initiative übernehmen und konsequent handeln. Setzt der Kontrahent also zu Schnitten und Stichen an, treiben wir den Rucksack mit beiden Armen kraftvoll in Richtung der Angriffe, um die Klinge möglichst früh in ihrem Bewegungspfad abzufangen. Richtig ausgeführt, ersticken wir seine Angriffsversuche im Keim und weit bevor sie ihre volle Kraft entfalten können. Zudem können wir den Aggressor durch unsere Vorgehensweise auch aus dem Gleichgewicht bringen und jedes Zeichen seinerseits von Schwäche oder Verwundbarkeit sollten wir ausnutzen, um Kniestöße in den Unterleib oder tiefe Tritte gegen Kniegelenke, Schienbeine oder Fußgelenke folgen zu lassen. Das erklärte Ziel ist es, seine Mobilität zu zerstören, um Distanz herzustellen und eine sichere Flucht vorbereiten zu können. Berücksichtigt werden muss bei den geschilderten Taktiken aber auch das Verhältnis zwischen eigener Körperkraft und Rucksackgewicht.
Für die Abwehr ist das Gewicht und der Inhalt entscheidend
Ist der Rucksack so vollgepackt und schwer, dass man ihn kaum bewegen kann, sind schnelle Abwehrmanöver natürlich kaum durchführbar. Selbstverständlich ist auch der Inhalt des Rucksacks von ausschlaggebender Bedeutung im Ernstfall, bestimmt er doch maßgeblich darüber, ob beispielsweise eine scharf geschliffene Messerklinge wirkungsvoll abgefangen werden kann. Aus diesem Grunde könnte man auch durchaus darüber nachdenken, seinen Rucksack als Verteidigungsinstrument noch effizienter zu gestalten. Eine passgenaue Einlegeplatte aus einem harten, schlagzähen und widerstandsfähigem Material könnte hier eine sinnvolle, diskrete Aufrüstung darstellen. Viele Rucksäcke besitzen Einschubfächer für die beliebten Trinkblasen mit Schlauchanschluss und diese Stauräume sind ideal dafür, eine Schutzplatte unterzubringen. Die simple aber sehr effektive Taktik, ein Abwehrschild gegen bewaffnete Angriffe einzusetzen, lässt sich mit vielen Alltagsgegenständen neben dem Rucksack ausführen. Improvisierte Waffen beziehungsweise Abwehrinstrumente können Aktentaschen, Handtaschen, Stühle, Hocker, und so weiter sein. Als mentale Übung im Rahmen der generellen Wachsamkeit zur Erhöhung der Eigensicherung kann man beispielsweise immer wieder Dinge des alltäglichen Lebens im Hinblick auf ihre Tauglichkeit als Selbstverteidigungsmittel aussuchen und abschätzen. Man wird feststellen, dass es davon eine ganze Menge gibt. Trainiere hart, bleibe sicher!
Die anderen Teile unserer Serie lesen Sie hier:
- Grundlagen der Selbstverteidigung und die Abwehr des "Schwingers"
- Die Abwehr eines würgenden Angreifers
- Die Standardsequenz als Fundament erfolgreicher Selbstverteidigung
- Abwehr eines üblichen Straßenangriffs: Des Kragengriffs
- Bewaffnete Selbstverteidigung: Improvisierte Waffen.
- Selbstverteidigung am Boden, wenn der Gegner auf uns sitzt.
- Abwehr von mehreren Gegnern, die auf uns am Boden liegend eintreten.
- Grundtechniken der Stockabwehr
- Stockabwehr für Fortgeschrittene
- Grundlagen der Messerabwehr
- Messerabwehrtechnik: "Split-X"
Mehr zum Thema Selbstverteidigung lesen Sie im VISIER Special 85 Selbstschutz & Sicherheit.
Tipps zum Thema: Wie schütze ich mich vor Übergriffen? Haben wir Ihnen auch schon hier gegeben.