Schon im 5. Teil unserer Serie befassten wir uns mit dem Einsatz von improvisierten Waffen wie beispielsweise einer Taschenlampe. Hierbei dürfte klar sein, dass wir durch diese Einsatzmittel unsere Effektivität und somit den Grad unserer Verteidigung steigern. Gut so, zumal man davon ausgehen muss, dass ein Angreifer ebenfalls bewaffnet sein könnte. Die perfekte Waffe ist jene, die wirkungsvoll gegen ein breites Spektrum von Angriffen eingesetzt werden kann, einfach und bequem zu führen und vor allem auch legal ist – wo immer man leben oder reisen mag. Bei näherer Betrachtung dieser Anforderungen wird klar, dass sie von vielen Waffentypen – sei es die Kurzwaffe, das Messer oder OC-Spray – nicht erfüllt werden. Besonders dann nicht, wenn man stark reglementierte Lebensräume mit ins Kalkül zieht. Eine der wenigen Waffen, die all den Kriterien gerecht wird, ist der Gehstock. In der Geschichte war er in vielen Kulturen ein modisches Accessoire ebenso wie Verteidigungsmittel. Im modernen Leben wird er jedoch in erster Linie als Mobilitätshilfe für Gebrechliche und Verletzte angesehen. Dieses Image des Gehstocks sowie der Fakt, dass man ihn natürlich auch ohne medizinische Notwendigkeit nutzen darf, machen ihn zum ultimativen, "politisch korrekten" Defensivwerkzeug. Erst recht, wenn man mit ihm umzugehen weiß. Hinzu kommt die Tatsache, dass wir uns von einem Menschen, der sich entscheidet, einen Gehstock zu nutzen, zu einem älteren Menschen entwickeln, der vielleicht einen Gehstock benötigt. Umso mehr die körperlichen Kräfte schwinden, desto simpler und effizienter müssen unsere Verteidigungstaktiken sein.
Die Lösung heißt Martial Cane Concepts (MCC)
Die meisten heute vermittelten "Selbstverteidigungssysteme" mit dem Stock sind oftmals zu kompliziert und körperlich zu anstrengend, so dass man sie kaum als wirklich "praktisch" bezeichnen kann – vor allem, wenn man auf einen Stock als Mobilitätshilfe angewiesen sein sollte. Aus diesem Grunde habe ich "Martial Cane Concepts" (MCC) entwickelt, ein Stockverteidigungssystem, das mit minimalem Trainingsaufwand erlernt und mit nur wenig regelmäßigem Üben verinnerlicht und im Notfall abgerufen werden kann. Auf diesem Fundament aufbauend, ist das System aber auch so wandelbar, dass körperlich leistungsfähigere Individuen bei Bedarf ein höheres Technikniveau anwenden können. Bauen mit fortgeschrittenem Alter die körperlichen Möglichkeiten ab, kann man die Taktiken mit dem Stock entsprechend anpassen.
Der Spazierstock − mehr als eine Stütze
Unsere Ausgangsstellung und Schutzposition stammt aus der philippinischen Stockkampfkunst "Eskrima" von Heyrosa De Cuerdas. Sind Sie Rechtshänder, dann platzieren Sie ihren linken Fuß nach vorne, so dass Sie einen schulterbreiten Stand mit leicht zueinander versetzten Füßen einnehmen. Greifen Sie den Stock mit einer natürlichen Fausthandhaltung im hinteren Griffbereich und heben Sie die Stockspitze vor Ihren Körper. Mit der linken Handinnenfläche umgreifen wir den Stock im oberen Drittel, wobei der Daumen und alle vier Finger von oben auf dem Stock positioniert werden. Ziehen Sie den Ellenbogen Ihres rechten Armes in Körperrichtung an, so dass die rechte Hand in Hüftnähe und die Stockspitze vor ihrem Gesicht in Augenhöhe platziert sind. In dieser Schutzstellung funktioniert der Stock als Schild gegen etwaige Angriffe und ist gleichzeitig perfekt positioniert, um zu schnellen Gegenschlägen auszuholen.
Die Basissequenz mit dem Stock
Der Kern des Systems ist eine Basissequenz von 6 Bewegungen. Beginnend mit der erläuterten Schutzstellung sieht der Bewegungsablauf folgendermaßen aus:
- Die Stockspitze wird mit beiden Händen auf Höhe des Solarplexus abgesenkt.
- Der Stock wird mit beiden Händen in einem leicht nach oben verlaufenden Winkel kräftig nach vorne gestoßen. Ein zeitgleich ausgeführter, leichter Vorwärtsschritt verstärkt die Wirkung.
- Der Griff der linken Hand wird aufgelöst und die Hand in Richtung der rechten Hand verschoben während der Stock aufrecht in den Himmel zeigt. Die linke Hand wird als Unterstützung auf der Handgelenkinnenseite der rechten Hand positioniert. Dadurch hält man zwar den Stock mit einer Hand, kann ihn aber mit der Kraft beider Hände schwingen.
- Führe einen schnellen Vorhandschwung aus, ähnlich dem Schlag mit einem Baseballschläger, und ziele dabei auf Knie oder Schienbein des Angreifers. Schwinge den Stock weiter durch bis auf Deine linke Schulterseite.
- Führe aus dieser Position einen schnellen Rückhandschwung aus, der wiederum auf das Knie oder Schienbein des Aggressors ausgerichtet ist. Schwinge wiederum bis zu Deiner rechten Schulterseite durch, wobei das Handgelenk automatisch gedreht wird.
- Senke die Stockspitze und kehre in die Ausgangs- beziehungsweise Schutzstellung zurück.
Anwendungen des Gehstocks im Ernstfall
Stellen wir uns vor, ein Angreifer versucht beispielsweise, uns mit einem Stock, Rohr oder ähnlichem Gegenstand am Kopf zu treffen. Aus der Schutzstellung heraus drehen wir uns in Schlagrichtung und öffnen unsere linke Hand, so dass nur unsere Handfläche unseren Spazierstock berührt. Diese verstärkte Position und die Masse des Gehstocks funktionieren als Schild, mit dem man auch kraftvolle Schläge abfangen kann. Sobald die Waffe des Aggressors geblockt wurde, kehren wir in die zentrale Ausgangsposition zurück und führen unseren einstudierten, MCC-Basisbewegungsablauf mit dem Stock fort. Mit der linken Hand den Stock führend, wird er nach unten gestoßen, so dass er der Länge nach auf der Angreiferwaffe nach unten fährt und somit schmerzhaft die Hand des Gegenübers treffen wird. Diese Bewegung wird ihn unter Umständen entwaffnen oder zumindest dazu führen, dass seine Hand und Waffe nach unten gelenkt werden. Darüber hinaus wird er höchstwahrscheinlich seinen Oberkörper nach vorne beugen. Ist dem so, führen wir die zweite Bewegung unserer Standardabwehr aus: Der Stock wird mit beiden Händen in einem leicht nach oben verlaufenden Winkel kräftig nach vorne gestoßen. Gezielt wird hierbei auf Solarplexus, Brustbein, Kehle oder Gesicht. Die Wirkung dieses Stoßes dürfte das Gegenüber rückwärts taumeln lassen, was uns wiederum die Möglichkeit eröffnet, unsere Abwehrkette durch einen Schlag mit voller Kraft in Richtung Knie, Schienbein oder Fußgelenk möglichst effizient abzuschließen. Solch ein "Tiefschlag" ist ein zentrales Element im MCC-System und ein wahrer "Mobilitätskiller". Er zerstört die Möglichkeit des Aufrechtstehens, Kämpfens und des eventuellen Verfolgens des Aggressors, wenn man selbst die Flucht antritt. Dies ist umso entscheidender, wenn man selbst wirklich auf den Stock als Gehhilfe angewiesen sein sollte. Darüber hinaus ist der Tiefschlag weitaus schwerer abzublocken und die erwähnten Ziele, vor allem das Schienbein, weisen eine große Zielfläche und somit eine hohe Trefferwahrscheinlichkeit auf. Gelingt es dem Angreifer, dem ersten Schlag zu entweichen, folgt der schnell ausgeführte Rückhandschlag aus unserer MCC-Basissequenz. Denn es ist immer gut, einen Plan B bereitzuhalten.
Die anderen Teile unserer Serie lesen Sie hier:
- Grundlagen der Selbstverteidigung und die Abwehr des "Schwingers"
- Die Abwehr eines würgenden Angreifers
- Die Standardsequenz als Fundament erfolgreicher Selbstverteidigung
- Abwehr eines üblichen Straßenangriffs: Des Kragengriffs
- Bewaffnete Selbstverteidigung: Improvisierte Waffen.
- Selbstverteidigung am Boden, wenn der Gegner auf uns sitzt.
- Abwehr von mehreren Gegnern, die auf uns am Boden liegend eintreten.
Mehr zum Thema Selbstverteidigung lesen Sie im VISIER Special 85 Selbstschutz & Sicherheit.
Tipps zum Thema: Wie schütze ich mich vor Übergriffen? Haben wir Ihnen auch schon hier gegeben.