Über den Fernschreiber trifft eine Nachricht ein. Mit einem Angriff des Warschauer Paktes sei unmittelbar zu rechnen. Sofort läuft die Maschinerie an, die auch in einem solchen Fall das Funktionieren des Staates garantieren soll. Beamte, Soldaten und Zivilangestellte der beteiligten Institutionen rennen umher, leiten alles in die Wege. Das gleiche Bild auch in Nordrhein-Westfalen. Auch hier laufen die Vorbereitungen, um die Landesregierung in Sicherheit zu bringen, bei Beibehaltung der Handlungsfähigkeit. Der Schlüssel dazu findet sich in einem kleinen Dorf in der Eifel. Der Name des Dorfes? Kall-Urft. Nun blieb der Kalte Krieg kalt und man musste die Einrichtung niemals nutzen. Doch sie existiert bis heute. Damals streng geheim, besteht heute die Möglichkeit, das Areal zu besichtigen.
Die Anfahrt zur Dokumentationsstätte Ausweichtsitz NRW
An einer unscheinbaren Einfahrt führt ein langer schmaler Weg durch ein Waldstück zu einem Einfamilienhaus im Stil der 1960er Jahre. Einen Parkplatz, eine Doppelgarage, viel mehr sieht man auf den ersten Blick nicht. Doch bei genauerer Betrachtung entdeckt man einen engen überdachten Gang, der von der Doppelgarage zu einer Betonwand im Wald führt. Doch bevor es an das Erkunden geht, muss jeder Teilnehmer noch einen Haftungsausschluss unterschreiben. Dazu gibt es eine kleine Tafel Schokolade. Fragende Blicke ob des kleinen Kalorienbömbchens. Das Rätsel löst sich schnell. "Gruppe Halbbitter, bitte zu mir!“, ruft ein Mann mit gelber Jacke und dem Logo der Dokumentationsstätte. Aha, deshalb also die Schokolade. Und schon findet sich die "Gruppe Halbbitter" im Inneren der Doppelgarage wieder. "Heute sind Sie Beamte, Mitarbeiter des Innenministeriums NRW. Am frühen Morgen wurden Sie über einen bevorstehenden Angriff aus den Reihen des Warschauer Paktes informiert. Ihnen blieb nur kurze Zeit, um das Nötigste zu packen, bevor Sie auf mehrere Fahrzeuge verteilt und auf verschiedenen Wegen zum Ausweichsitz der Landesregierung NRW nach Kall-Urft in der Eifel transportiert wurden. Hier müssen Sie nun die nächsten Tage arbeiten“, begrüßt uns der Bunkerführer Sascha Kelschenbach.
Die Besichtigung des Ausweichsitzes geht los
Die Treppen hinauf betreten wir einen Raum aus Beton. Es handelt sich dabei aber noch nicht um den Bunker, sondern einen nicht so stark geschützten Abschnitt. Es ist der Bereich, den man vom Parkplatz aus erahnen kann und der neben dem Vorraum zur Druckschleuse noch die Sauerstoffversorgung beherbergt. Hinter einer schweren roten Metalltür befinden sich riesige Ansaugrohre und einige Becken mit Split. Durch diese wäre im Falle eines Bombenangriffs die Luft für die 200 Mann Bunkerbesatzung gefiltert worden. Übrigens, heutzutage undenkbar, legte man den Bunker ausschließlich für die Nutzung durch Männer aus. Anfang der 1960er Jahre gab es im Innenministerium schlichtweg keine Frauen auf den entsprechenden Positionen. So sparte man sich einfach zweite Wasch- und Duschräume, Toiletten und Schlafsäle. Durch die Druckschleuse betreten wir dann den richtigen Bunker. Dessen Wände haben eine Stärke von 3m und das ganze Gebäude ist beweglich auf Kies gelagert, dadurch kann es durch eine Druckwelle bis zu 5 cm ohne Beschädigung verschoben werden.
Schnell durch die Gasschleuse, vorbei an Dekontaminationsraum und Krankenstation hinunter auf Ebene "Minus 2" in das Führungsreferat. Ein schlichter Raum, mehrere Arbeitsplätze mit je 2 Telefonen – eines mit Wählscheibe für die normale Telefonie über das Netz der Post, eines ohne Wählscheibe für eine sichere Leitung über die Telefonvermittlung des Bunkers, ein Verstärker an der Wand und ein Platz mit Mikrofon für Durchsagen. Dieses Mikrofon darf ein Besucher aus der Gruppe "Halbbitter" auch sofort nutzen, um die "Kollegen" per Durchsage über die Ankunft 50 weiterer Mitarbeiter zu informieren. Ein kurzer Blick in die Telefonvermittlung und den Fernschreibraum – dort trifft in diesem Moment ein Fernschreiben ein (ja, die Fernschreiber sind noch funktionstüchtig). Schnell ins Referat ABC-Abwehr, ein "Mitarbeiter" mit rotem Stift an den Leuchttisch mit der Deutschlandkarte, um einzuzeichnen, was der Kollege vorliest: "Um 13 Uhr erfolgte ein Angriff mit Atomwaffen im Raum Essen, Bochum, Duisburg. Die Strahlung erreicht um 16 Uhr die Linie Bergheim – Köln."
Nebenan im Referat Bevölkerungsbewegung klären wir, welche Gebiete sich noch rechtzeitig evakuieren lassen, wie viele Menschen betroffen sind und wie viele Transportmittel wir dafür bereitstellen können. Mit den Referaten Bauwesen & Verkehr und dem Referat Polizei ergreifen wir geeignete Maßnahmen, um möglichst viele Menschen zu retten. Informieren können wir die Bevölkerung über das Radiostudio des Ausweichsitzes. Zu diesem Zweck können wird dort einfach mit einem Schalter das aktuelle Programm des WDR "kapern". Das Referat Ernährung kümmert sich indes schon darum, wie Millionen von Menschen satt werden, pro Person sollen 2 Liter Wasser und ein 1 kg Nahrung zur Verfügung stehen. Notfalls muss Nahrung in Lebensmittelmärkten oder direkt beim Produzenten beschlagnahmt werden. Was dabei rechtlich statthaft ist, klärt das Referat Justiz mit Hilfe von hunderten Nachschlagewerken und lässt den Justizminister die nötigen Papiere unterschreiben. Der Justizminister ist im Besprechungsraum auf Ebene "Minus 3" zu finden. Dort gibt es einen abgetrennten Bereich für ihn, den Innenminister, mit dem er sich einen Schlafraum und ein Stockbett teilt, 2 Staatssekretäre, die sich ebenfalls einen Schlafraum teilen und den Ministerpräsidenten, die einzige Person mit Einzelzimmer. Für die restlichen 200 Beamten stehen 100 Betten in mehreren Schlafräumen bereit, geschlafen wird im Zweischichtbetrieb. Mehrere dieser Schlafräume sind heute zu Speiseräumen umfunktioniert und zum Abschluss der spannenden Führung, bei der noch viele Informationen zur Geschichte und Technik vermittelt wurden, geht es dort zum Brunch.
Umherstreunen in der Bunker-Anlage
Im Rahmen des Besuchs kann man sich nach der Führung frei im ehemaligen Ausweichsitz bewegen und nach Herzenslust fotografieren. Dabei gilt es auf die Durchsagen zu achten, denn es werden zwischendurch Bereiche geöffnet, die im normalen Museumsbetrieb verschlossen bleiben. Dazu gehören der Notausgang, der Kriechkeller und ein Lagerraum mit Atemschutztechnik und allerlei Hygieneartikeln aus der damaligen Zeit, von der Zahnbürste über den Elektrorasierer bis zur Seife, die auch nach Jahrzehnten noch duftet. Das Toilettenpapier "Samariter" entlockt manchem Gast doch ein zweideutiges Schmunzeln. Dann ging es nach einer Pause nach draußen. Dabei geht es auf das Dach des Bunkers, um uns zu zeigen, wo während Betriebszeit bauliche Änderungen erfolgten. Auch die Luke für den Notausgang und diverse Antennen können dort oben besichtigt werden. Ebenso der kleine Waldweg, der zum Hubschrauberlandeplatz oberhalb des Bunkers führt. Viele weitere Infos zum Bau und Betrieb des Ausweichsitzes weiß der Besitzer Harald Röhling dabei zu erzählen, dessen Familiengeschichte eng mit der Geschichte des Bunkers verbunden ist. Richtig spannend sind auch seine Geschichten über Spionage – was man damals nur vermuten konnte, entpuppte sich nach dem Ende des Kalten Krieges und der Möglichkeit, die betreffenden StaSi-Akten zu sichten, nämlich als Gewissheit.
Fazit zum Museums-Bunker
Dunkel, eng und muffig war die "Dokumentationsstätte ehemaliger Ausweichsitz der Landesregierung NRW" keinesfalls. Die Gänge und Räume waren mit Leuchtstoffröhren hell beleuchtet. Bis auf die kargen Schlafräume hatte das Gebäude die Anmutung eines typischen Verwaltungsgebäudes der 1960er Jahre, nur ohne Fenster und Tageslicht. Die Führung war spannend gestaltet, das gesamte Team war freundlich und beantwortete gerne jede Frage. Man spürte das Herzblut, das die Mannschaft um Harald Röhling in die gesamte Veranstaltung und den Erhalt der Dokumentationsstätte steckt. Fototage finden mehrmals pro Jahr statt und sind mit 30 Euro für Erwachsene inklusive Verpflegung nicht zu teuer – zumal man über sieben Stunden in die Zeit des Kalten Krieges abtauchen kann.
Weitere Informationen zu den Fototagen und anderen Veranstaltungen finden Sie auf der Hompage der "Dokumentationsstätte ehemaliger Ausweichsitz der Landesregierung NRW".