Das Schießen auf große Distanzen deutlich jenseits der hier üblichen, maximalen 300 Meter ist sehr anspruchsvoll. Dies fängt bei der entsprechenden Kaliber und Geschossauswahl an, über geeignete Optiken mit hoher Vergrößerung und vor allem großen vertikalen wie horizontalen Verstellwegen, ein entsprechendes Wissen zur Außenballistik bis hin zu geeigneten Schießständen. Vor allem der letzte Punkt ist in Deutschland der Grund, warum das Long-Range Schießen hier nur langsam Einzug hält. Zwar kann man bei einigen wenigen Anbietern wie der Jagd und Schießschule Bach oder der Akademie 0/500 die begehrten Weitdistanzen schießen, ansonsten bleibt dem interessierten Schützen aber nur das benachbarte Ausland, etwa Dänemark, Frankreich, Italien, Polen und Tschechien. Da wäre es doch ein Segen, wenn man das Long-Range-Schießen mit großkalibrigen Büchsenpatronen quasi maßstäblich verkleinern könnte, damit die hier verfügbaren 300-Meter-Stände ein Long-Range-Feeling ermöglichen. Genau dies wird seit einigen Jahren im Land der unbegrenzten Möglichkeiten mit der Kleinkaliberpatrone .22 l.r. gemacht. Der Hauptgrund dafür dürfte jedoch in den USA nicht das Fehlen entsprechend langer Schießbahnen sein, sondern viel mehr das kostengünstige Training. Denn gleichgültig, ob man nun das Geschoss einer .375 CheyTac oder das einer .22 l.r. auf die Reise schickt, außenballistisch wirken auf beide Geschosse die gleichen Kräfte, nur eben mit unterschiedlicher Auswirkung. Was beim Schuss auf unter schiedliche Weitdistanzen als Herausforderung hinzukommt, ist das sichere Beherrschen der Zieloptik, hier also die parallaxefreie Einstellung der richtigen Distanz und das Kompensieren der gekrümmten Flugbahn und Seitenwind durch die Höhen und Seitenverstellung. Natürlich besteht, oberflächlich betrachtet, das Hauptanliegen darin, möglichst weit zu schießen und dann auch zu treffen. Dies erfordert aber mit wachsender Schussdistanz auch immer leistungsstärkere Kaliber und Optiken, größere Waffen und größere Schießplätze. Man kann aber auch umgekehrt eine schwache Patrone dafür verwenden – bei der .22 l.r. etwa gilt ja bereits alles über 100 Meter hinaus als Long Range. Unter den deutschen Begebenheiten erscheint daher das 22er Long Range als eine interessante und vor allem kostengünstige Variante, wenn vielleicht auch nur als Trainingsvariante genutzt. Genau dies bot für die RWS Entwickler aus Fürth den Anlass, sich dem Thema zu öffnen und eine spezielle Long-Range-Laborierung in .22 l.r. zu entwickeln.
RWS R Plus Long Range: Die neue KK-Patrone im Detail
Die neue RWS R Plus Long Range erweitert damit das Premium-Sortiment der R50 und R100-Patronen distanzmäßig nach oben. Laut RWS soll die Einsatzdistanz bis über 200 Meter betragen. Geplant ist die Markteinführung für das 3. Quartal 2022. Bereits jetzt konnten wir die neue Laborierung ausführlich und exklusiv auf sechs Distanzen von 50 bis 300 Metern testen. Und das in einer der all4shooters.com-Geschichte einmaligen Weise: Zum einen ging es um einen mehrtägigen Mammuttest mit alles in allem über 3.000 Schuss – Sie lesen richtig: Unsere Tester Pascal Conter und Chris Hocke verfeuerten 3.000 Schuss, die Zahlenangabe ist kein Tippfehler. Zum anderen handelte es sich bei der den Test auslösenden RWS-Patrone quasi um einen "Erlkönig", wie derartige ganz frühe Versuchsmuster in der Autobranche heißen: Als die Tester bei den RWS-Entwicklern in Fürth eintrafen, sahen sie weiße 22er Patronenschachteln noch ohne jedes "richtige" Etikett. Sieht man auch nicht alle Tage: Also das Smartphone gezückt und draufgehalten, ehe die seitens der CIP vorgeschriebenen Kenndaten-Labels auf die 22er Schachteln kamen und die Tester diese übernehmen konnten.
Soll ein Geschoss möglichst präzise auf weite Distanzen sein, so müssen Störeinflüsse wie Windempfindlichkeit und die Verzögerung durch die Luftreibung möglichst klein gehalten werden. Dies erreicht man am besten, indem man die Geschossmasse erhöht. Dadurch steigt die in der Ballistik als Querschnittsbelastung bezeichnete Masse bezogen auf den Geschossquerschnitt. Eine höhere Masse auf denselben Querschnitt verringert die Verzögerung durch die Luftreibung. Das Geschoss verliert somit langsamer an Geschwindigkeit, ist schneller im Ziel und die Flugbahn ist gestreckter, das Projektil fliegt somit stabiler. Die Seitenwindempfindlichkeit lässt sich ebenfalls durch eine hohe Masse verringern, jedoch idealerweise gepaart mit einem kurzen Geschoss, was wenig Angriffsfläche bietet. Daher konstruierten die RWS-Entwickler ein Bleigeschoss mit einer Masse von 2,79 Gramm oder 43 Grains. Ein weiterer Punkt, um die Geschossflugzeit und Störeinflüsse zu verringern, ist eine höhere Mündungsgeschwindigkeit. Diese kann durch spezielle Treibladungspulver und die Anzündung erhöht werden. Allerdings muss sich RWS an die Vorgaben der CIP halten, die einen maximalen Gasdruck von 1.700 bar für die .22 l.r. zulässt. Dennoch konnte RWS die Mündungsgeschwindigkeit laut eigener Angaben auf 355 Meter pro Sekunde anheben. Der Test aus der Repetierbüchse CZ 457 Long Range Precision(LRP) übertraf die Herstellerangaben im Mittel sogar um 6 m/s.
Als letzter wichtiger Punkt beeinflusst die Geschossform die Außenballistik. Im Überschallbereich bildet sich an der Geschossspitze der sogenannte Mach‘sche Kegel aus. Die von der Geschossspitze verdrängte Luft muss schneller ausweichen, als deren eigene Schallgeschwindigkeit (343 m/s bei 20 Grad Celsius) beträgt. Daher bildet die Luft ein Druckpolster auf der Geschossoberfläche, das der Geschossbewegung entgegengesetzt ist, es also abbremst. Daher weisen Match-Geschosse auch eine schlanke Spitzengeometrie auf. Die Bremskräfte am Geschossheck fallen nur sehr gering aus. Im Unterschallbereich ist dies genau umgekehrt. Ein Mach‘scher Kegel kann sich nicht ausbilden, da die Luftverdrängung durch das Geschoss mit Unterschallgeschwindigkeit stattfindet. Die hauptsächlichen Bremskräfte finden nun am Geschossheck in Form des sogenannten Bodensoges statt. Dabei entsteht durch den Geschossflug am Heck ein Unterdruck, der der Geschossbewegung entgegenwirkt. Die neue RWS-Patronensorte R Plus Long Range startet mit Überschallgeschwindigkeit und fällt nach zirka 25 Meter Flugstrecke in den Unterschallbereich. Daher mussten die Konstrukteure vor allem das Geschossheck optimieren. Die neue patentierte Geschossform weist einen konischen Heckzapfen auf, der einerseits Masse bringt und andererseits den Bodensog reduziert.
Versuchsaufbau für den Test der KK-Patronen mit der CZ 457 LRP:
Um die tatsächliche Leistungsfähigkeit der zehn zum Test herangezogenen Laborierungen aus der CZ 457 LRP ermitteln und somit die einzelnen Patronensorten direkt untereinander vergleichen zu können, entschlossen sich die Tester, alle Distanzen auf einem Indoor-Schießstand zu schießen. Auf der 300-Distanz sind je nach Laborierung die Geschosse eine Sekunde und länger unterwegs. Bei der geringen Masse von ungefähr 2,6 g sind die Projektile sehr anfällig gegen Seitenwind. Eine kaum sicht- oder spürbare Luftbewegung kann in dieser Flugzeit die Streukreise stark verfälschen, vor allem, wenn der Wind nicht kontinuierlich herrscht. Der zweite Punkt, der den Testern wichtig erschien, war das sortenreine Verschießen der Patronen. Unterschiedliche Hersteller verwenden unterschiedliche Bleilegierungen und auch Geschossfette. Somit wurde eine Laborierung auf alle sechs Distanzen durchgeschossen. Erst danach kam der Wechsel zur nächsten Laborierung.
Nach jedem Laborierungswechsel ging es durch eine Reinigung darum, den Lauf möglichst wieder in den Ausgangszustand zu bringen. Da das "richtige" Reinigen bekanntlich eher eine philosophische als eine technische Frage ist, erkundigte sich das Prüfer-Team im Vorfeld bei diversen Munitionsherstellern und Wettkampfschützen. Wie zu erwarten, gab es keine einheitlichen Aussagen und somit auch keine eindeutige Empfehlung. Die Tester entschieden sich nach einiger Überlegung gegen eine rein mechanische Reinigung mit Bronzebürsten, sondern für eine kombinierte chemische und mechanische Reinigung. Für die Laufreinigung wurde Bore Tech Rimfire Blend für Bleigeschosse und Bore Tech Copper Remover für die verkupferten Bleigeschosse verwendet. Dabei putzten die Tester nach Herstelleranleitung. Zu diesem Zweck tränkten sie 4 VFG-Filze mit dem jeweiligen Reinigungsmittel und schoben sie durch den Lauf. Anschließend hieß es, eine passende Bronzebürste mit dem Mittel zu benetzen und zehnmal durch die Laufseele zu schieben. Der Bleilöser benötigte eine Einwirkdauer von etwa 10 Minuten, beim Kupferlöser war es knapp die Hälfte. Abschließend wurde das Laufinnere mit trockenen Filzen solange gereinigt, bis keine Schmutzanhaftungen mehr feststellbar waren. Angesichts der hohen Schussmenge musste immer wieder methodisch gereinigt werden. Dazu nutzten die Tester Solvents von Bore Tech, Bürsten und passende VFG-Filze. Bevor sie jedoch die neue Laborierung auf Präzision überprüften, verschossen die Tester 5 bis 10 Patronen, um den Lauf sozusagen auf das neue Geschoss "einzugewöhnen".
Die .22 l.r. war seit ihrer Einführung Ende des 19. Jahrhunderts für kurze Distanzen von 50, maximal 100 Metern vorgesehen, das Wissen zu dieser gängigen Einsatzreichweite der KK-Patrone gehört gleichsam zum Rucksackwissen jedes Schützen. Nun überschritt diese Erprobung die all gemein übliche Maximalentfernung um das Dreifache. Daher rechneten die Tester vor allem auf den größeren Distanzen mit stark schwankenden Streukreisen. Hintergrund dafür ist das eher schlechte Verhältnis aus Treibladungs- und Anzündmasse. Nur geringe Schwankungen in der Anzündmasse und deren Verteilung in der Hülse haben einen starken Einfluss auf die innenballistische Abbrandcharakteristik. Kurz gesagt, schon geringe Schwankungen bei der Anzündsatzmasse führen zu deutlichen Schwankungen in der Mündungsgeschwindigkeit und dies in Kombination mit langen Flugzeiten zu stark variierenden Streukreisen. Es wurden daher je Laborierung und Distanz drei Streukreise à fünf Patronen geschossen. Der in der obenstehenden Tabelle angegebene Wert enthält somit den Mittelwert der drei Einzelwerte. Um als Schütze möglichst eine eigene Trefferbeobachtung auf den größeren Distanzen vornehmen zu können, wurde das Zielfernrohr GPO Spectra 6x 4,5–27x50 montiert. Allerdings erfordert das eine sehr gute Scheibenbeleuchtung in Form von Strahlern.
Testergebnisse: RWS R Plus Long Range im Vergleich mit 9 anderen Laborierungen. Streukreise auf 50, 100, 250 Meter Distanz
Nr. | Fabrikpatrone | SK auf 50 m (in mm) | SK auf 150 m (in mm) | SK auf 250 m (in mm) |
1. | 38 gr (2,46 g) Blazer LRN | 32 | 117 | 264 |
2. | 40 gr (2,59 g) CCI Mini Mag CPRN | 26 | 72 | 161 |
3. | 40 gr (2,59 g) Eley German Match | 22 | 56 | 165 |
4. | 40 gr (2,59 g) Federal Gold Medal Target | 29 | 54 | 131 |
5. | 40 gr (2,59 g) Fiocchi Ultrasonic CPRN | 25 | 147 | 208 |
6. | 40 gr (2,59 g) Lapua Center-X | 25 | 56 | 122 |
7. | 40 gr (2,59 g) RWS Rifle Match S | 24 | 67 | 133 |
8. | 40 gr (2,59 g) SK Rifle Match | 19 | 63 | 118 |
9. | 40 gr (2,59 g) SK Long Range | 18 | 66 | 136 |
10. | 43 gr (2,79 g) RWS R Plus Long Range | 20 | 51 | 105 |
Anmerkungen/Abkürzungen: SK (mm) = Streukreisangaben in Millimetern, Schussentfernungen 50, 100, 150, 200, 250 und 300 Meter, Waffe von Benchrest-Auflage geschossen. Bei den Angaben handelt es sich um Fünf-Schuss-Trefferbilder (Mittelwert aus drei Gruppen). Für die Streukreise auf 100, 200 und 300 Meter, siehe Hinweis unten. |
Fazit: Das leistet die RWS R Plus Long Range in .22 l.r. auf lange Distanzen
Obwohl die Tester alle Distanzen indoor, also unter Idealbedingungen geschossen haben, zeigen die gemessenen Streukreise vor allem zwei Punkte sehr deutlich. Bereits ab einer Distanz von 100 Metern stellt sich heraus, welche Laborierung für weite und präzise Schüsse geeignet ist. Kommen bei gleicher Laborierung und Distanz stark unterschiedlich große Streukreise zustande, auch wenn einige gute Schuss gruppen dabei sind, dann eignet sich die Munition für den weiten Schuss nicht. Besser sind hier konstante und reproduzierbare Streukreisdurchmesser, auch wenn diese etwas größer ausfallen sollten als andere Einzelstreukreise.
In diesem Punkt hatte die neue RWS R Plus Long Range gegenüber den anderen Testlaborierungen die Nase vorne, auch wenn es bei der vollen 300-Meter Distanz (mit 159 mm) nur für Platz 3 gereicht hat. Darüber hinaus demonstrierte der Test, dass man mit der alten Kleinkaliberpatrone, wenn Waffe und Munition harmonieren, sehr gute Ergebnisse selbst auf 300 Meter erzielen kann, wie auch das Platz 1-Ergebnis der SK Long Range mit 118 mm zeigt. Wie nun die neue RWS Long Range KK-Munition aus anderen Kleinkaliber-Repetierern fliegt, welche Optiken und Montagen sich für KK-Long Range eignen und was sonst noch bei dieser Art sportlicher Langdistanzschüsse zu beachten ist, das lesen Sie alles hier demnächst bei all4shooters.com.
Noch ein wichtiger Hinweis zum Schluss: Alle hier aufgeführten Laborierungen sind mit Bleigeschossen geladen. Alternative Geschossmaterialien eigenen sich definitiv nicht für KK-Munition mit höchsten Ansprüchen an die Präzision. Im nächsten Test werden wir Ihnen hierzu auch einige Streukreise von bleifreier Munition zeigen. Soviel sei schon verraten: Die Ergebnisse zeigen eindrucksvoll, dass Blei in Munition unverzichtbar ist.
Text: Pascal Conter und Christopher Hocke
Redaktion: Matthias S. Recktenwald
Fotos: Pascal Conter, Christopher Hocke, Matthias S. Recktenwald, RWS
Diesen Test finden Sie auch in der VISIER 5/2022. Dort sind nicht nur zusätzlich alle Streukreise auf 100, 200 und 300 Meter enthalten, das Heft enthält auch die Mündungsgeschwindigkeiten und Mündungsenergien aller Laborierungen. Sie finden die Ausgabe auch als Digitalversion im VS Medien-Onlineshop.
Weitere Informationen zur neuen R Plus Long Range finden Sie auf den Seiten des Herstellers RWS.