Der staatliche türkische MKEK-Konzern stellte kürzlich sein Milli Piyade Tüfegi (MPT)-76, zu Deutsch: „Nationales Infanteriegewehr“vor. Als größte Überraschung stellte sich das Kaliber heraus: 7,62 x 51 mm.
Der türkische NATO-Partner hat damit einen Trend seiner transatlantischen Verbündeten nicht mitgemacht: die stets strittige Umstellung auf eine kleinere, leichtere, rasantere und rückstoßärmere Patrone. Diese hatten die USA bereits in den 1960er Jahren im Vietnamkrieg vorexerziert. Ab 1963 gaben sie ihren GIs das M16 samt seiner .223-Laborierung M193 in die Hand. Doch erst 1980 standardisierte die NATO dieses Kaliber mit den ins metrische System umgerechneten Daten 5,56 x 45 mm - in Gestalt der belgischen Patrone SS 109.
In der Folge stellten etliche Streitkräfte auf dieses Kaliber um. Dennoch verschwand die 7,62 x 51 mm nie völlig aus den Arsenalen und natürlich auch nicht die Waffen für diesen Patronentyp - den ersten, den die NATO vor 60 Jahren als gemeinsames Ordonnanzkaliber akzeptiert hat.
So zum Beispiel bei den Maschinengewehren
Sofern sich die Streitkräfte überhaupt davon trennten, wanderten sie entweder in Depots oder dienten als Fahrzeugbewaffnung. Eine weitere Einsatzmöglichkeit stellte die Rolle als „Crew Served Weapon“ dar, also eine Waffe, die eine mehrköpfige Bedienmannschaft erfordert.
Born in the USA
Dass sich die NATO-Streitkräfte eher im Bereich der Sturmgewehre als bei den Maschinengewehren von der 7,62 x 51 mm trennten, erscheint nachvollziehbar. Als das Kaliber vor 60 Jahren seinen Dienst in den NATO-Streitkräften antrat, war es nicht unumstritten. Denn die im Dezember 1953 erfolgte NATO-Standardisierung war vor allem auf Betreiben der USA geschehen.
Diese Patrone ist ein Kind der Nachkriegsära. In der Zeit erkannten die Amerikaner, Sowjets und die Deutschen, dass die bislang genutzte Standardmunition zu lang und zu stark für die üblichen Einsätze ausfiel. Kein Wunder: Patronen wie die deutsche 8 x 57 mm, die russische 7,62 x 54 R und die amerikanische .30-06 Springfield stammten aus der Epoche, die von der Mitte der 1880er bis in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg reichte: Da schuf man die Zylinderverschluss-Repetierer und mit ihnen neue Patronen, welche die Ballistiker mit neuem raucharmem Pulver laboriert hatten und für die sie nun neue Geschossformen ersannen.
Mit denen einher gingen neue Möglichkeiten in Sachen Treffgenauigkeit, Wirksamkeit und Reichweite, die noch wenige Jahrzehnte zuvor für die Waffen normaler Infanteristen als unmöglich gegolten hatten. Jedoch zeigte sich spätestens im Zweiten Weltkrieg, dass die normalen Kampfeinsätze und Feuergefechte weit unterhalb dieser Möglichkeiten stattfanden.
In den USA sann man über eine kleinere Patrone nach, die aber immer noch auf vergleichsweise hohe Distanz treff- und wirksicher sein sollte. Bereits 1944 startete das US-Zeugamt im Frankfort Arsenal Versuchsreihen mit verkürzten Hülsen. Am Ende des Jahrzehnts hatte sich die Hülsenlänge von 51 mm als allgemein akzeptiertes Idealmaß für die zu schaffende neue Armee-Patrone herausgestellt. Allerdings diente nicht dieses Kaliber, sondern die .300 Savage als Ausgangspunkt für das Projekt, welches zunächst unter dem Namen „T65“ lief.
Dann aber mischte sich Winchester Ammunition ein: Sie stellte 1952 eine zivile Variante dieser Patrone vor und bot sie unter der Bezeichnung .308 Winchester kommerziell an. Und aus der ging dann zum Beginn des Jahres 1954 die NATO-seitig standardisierte Ordonnanzpatrone 7,62 x 51 mm hervor. Ihre Kennzeichen bestanden in einem 145 bis 147 Grains schweren Geschoss, mit dem eine Anfangsgeschwindigkeit von 835 bis 840 Meter pro Sekunde zustande kam. Die US-Armee nutzte zu Scharfschützenzwecken jahrzehntelang eine Laborierung des Lake City Arsenals mit 173 Grains schwerem Boattail- oder Torpedoheck-Geschoss, bekannt als M 118. Da das Kaliber aber auf dem Zivilmarkt vom Start weg einen enormen Erfolg als universell nutzbar für Sport und Jagd erlebte, kamen hier andere Geschosse auf als bei den Militärpatronen üblich.
Umstrittenes Kaliber
In Europa hingegen galt das neue Standardkaliber eher als suboptimale Lösung für Sturmgewehre. Hier präferierte man für solche Waffen die sogenannten Mittelkaliber, die leistungs- und größenmäßig zwischen der Munition für Pistolen und derjenigen für die Repetiergewehre lagen. So wollten die Briten auf das Kaliber .280 British (7 x 43 mm) umschwenken. Die Bundesrepublik trug sich mit dem Gedanken, eine künftige Bundeswehr mit neugefertigten Sturmgewehren 44 in 7,92 x 33 mm auszustatten. Dasselbe Kaliber hatte man ganz zu Anfang für die FN FAL ins Auge gefasst (das aber später als Serienwaffe in 7,62 x 51 kam). Interessanterweise stehen diese Mittelkaliber seit geraumer Zeit wieder im Mittelpunkt der gegenwärtig in der NATO laufenden Diskussion um das geeignete Kaliber. Dennoch sei eines festgehalten: Als sich das zu Anfang wenig geliebte 7,62er Kaliber im militärischen Europa erst einmal etabliert hatte, hielt es sich hier um einiges länger als in den USA – und das nicht nur bei der Bundeswehr, in der man erst Mitte der 1990er Jahre querschnittlich vom 7,62er G3-Sturmgewehr auf das 5,56er G36-Modell umstieg.
Katalysator Kaliberkontroverse
Die aktuelle Debatte wurde durch Gefechtserfahrungen in Afghanistan wiederbelebt. Sie bildete ohne Zweifel einen Katalysator für die Rückkehr der 7,62 x 51 mm im größeren Stil. Denn das Gefechtsfeld am Hindukusch zeichnete sich einerseits durch hohe Schussweiten, andererseits oft durch eine Bebauung mit dicken Lehmwänden aus. In beiden Fällen zeigt sich die 5,56 x 45 mm ganz klar unterlegen. Um mehr infanteristische Wirkung auf höhere Distanz ins Ziel zu bringen, sah ein Lösungsansatz etlicher NATO-Staaten vor, ältere Standardwaffen wieder aus den Depots hervorzuholen. So geschehen etwa in den britischen oder australischen Streitkräften, die statt des FN Minimi 556 wieder vermehrt das „Gimpy“ auf Gruppenebene mitführten - so der royale Spitzname für das General Purpose Machine Gun FN MAG.
Depotware und Neubeschaffungen
Bei der Bundeswehr stand vor allem das 7,62er Sturmgewehr G 3 auf den Wunschlisten. Denn nach wie vor dient das MG 3 als Universalmaschinengewehr. Die altehrwürdigen G 3 verwandelten sich in Eigenregie zu „Designated Marksman Rifles (DMR)“, also Zielfernrohrgewehren. Mit dem auf dem zivilen Halbautomaten Heckler & Koch MR 308 basierenden und mit hochwertigem Schmidt & Bender-ZF 5-25 x 56 PMII ausgestatteten G 28 erhielt die Bundeswehr streng genommen sogar ein Semi-Automatic Sniper System (= halbautomatisches Scharfschützengewehr). Etliche andere Staaten nutzen in der DMR-Rolle das leichtere HK 417. Dieses dient in Bundeswehr-Spezialkräften als schweres Sturmgewehr G 27. Es befindet sich derzeit eine kürzere Version namens G 27k in der Konzeption.
Die Kaliberdebatte wirkte sich darüber hinaus auf viele weitere Waffenbeschaffungen aus. Das US Special Operations Command (USSOCOM oder SOCOM, auf Deutsch: Kommando für Spezialoperationen der Vereinigten Staaten) stoppte beispielsweise im Juni 2010 aufgrund der Afghanistan-Erfahrungen die Beschaffung der 5,56er-Variante FN SCAR-light (Mk-16) zugunsten der FN SCAR-Heavy (Mk-17) in 7,62 und der Mk-20 genannten Scharfschützenvariante „Sniper Support Rifle“. Überhaupt zeigten die berühmt-berüchtigten „asymmetrischen Gefechtslagen“ der vergangenen 20 Jahre eins: Die Zeiten sind vorbei, in denen ein Kaliber für möglichst alles dienen sollte. Nun setzt man seitens der westlichen Streitkräfte zusehends kleine Kampfeinheiten ein. Und da drängt sich mehr und mehr die Erkenntnis auf, dass es unter Umständen sinnvoller ist, für diese Trupps vorzuhalten, was immer sie brauchen könnten. Dennoch denkt man über Vereinfachungen nach - in diesem Fall Hybrid-Systeme: So richtete Colt sein Modell LE 901-16S so ein, dass es sich mit wenigen Handgriffen vom Kaliber 7,62 x 51 mm auf 5,56 x 45 mm und wieder zurück umwandeln lässt.
Verbesserte Laborierungen
Mit der Rückkehr der 7,62er-Waffen auf den unteren taktischen Ebenen gehen natürlich wieder größere Bestellungen über die passende Munition einher. Nahezu alle Munitionshersteller bieten verbesserte Laborierungen in diesem Kaliber an. Dazu gehört beispielsweise die belgische FN Herstal mit der SS 77/1 Vollmantel (Ball) oder der P80/1 Armour Piercing. Nammo entwickelt gerade eine Ball 11 Long Range und die darauf abgestimmte Ball 11 Armour Piercing. MEN hat kürzlich bei der Bundeswehr eine DM 151 Armour Piercing qualifiziert.
Eine querschnittliche Rückkehr zu 7,62 erfolgt NATO-weit zwar nicht, allerdings behält das Kaliber seinen festen Platz im atlantischen Arsenal. Ohne diesen „Golden Ager“ geht es nicht, nicht nur im zivilen, sondern auch im militärischen Bereich.