Das Sturmgewehr bildet eines, wenn nicht das entscheidende Teil des ganzen Systems Soldat – pars pro toto! Es dient als das querschnittliche Standardwerkzeug in den infanteristischen Werkzeugkästen weltweit. Ungeachtet aller Zeitenwenden entfaltet der Soldat auf den Gefechtsfeldern von heute und morgen seine individuelle Feuerkraft in erster Linie mit jener leichten, magazingeladenen sowie wahlweise Einzel- oder Dauerfeuer schießenden Langwaffe, die er mit Beginn seiner Grundausbildung drillmäßig zu bedienen, zu warten und einzusetzen lernt. Das im Zweiten Weltkrieg entstandene Konzept dieses Waffentyps – die Bezeichnung Sturmgewehr ist ursprünglich ein deutscher Propagandabegriff – überzeugt nach wie vor: Feuerstark und dabei ausreichend präzise, handlich, einfach zu bedienen und zudem materialsparend und in großen Mengen herzustellen.
Sturmgewehre als Spiegel sicherheitspolitischer Glaubwürdigkeit
Die individuelle Bekleidung, Ausrüstung und erst recht die Bewaffnung spiegeln nicht nur das Vertrauensverhältnis zwischen Dienstherrn bzw. -frau auf der einen und den Soldatinnen und Soldaten als Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern in Uniform auf der anderen Seite wider, sondern letztlich auch die sicherheitspolitische Glaubwürdigkeit des Staates. Eine moderne Ausstattung trägt nicht nur zu höherer Kampfkraft bei, sondern wirkt sich auch positiv auf das Image aus – nach außen und innen, letztlich auch auf die strategisch so wichtige Nachwuchsgewinnung. Der Blick auf Deutschland und über die Grenzen lehrt: Wenn es auch in unterschiedlichen Intervallen und Intensitäten geschieht, so kommt es doch regelmäßig vor, dass Streitkräfte ihre Handwaffensysteme erneuern.
Freilich geschieht dies keineswegs alleine aus symbolischen Gründen. In erster Linie geht es bei diesen Modernisierungsprojekten darum, die individuelle Feuerkraft im Hinblick auf Präzision, Reichweite, Wirkung im Ziel sowie Zuverlässigkeit und Schussfolge zu erhöhen. Weiterhin sollen sie die Ergonomie verbessern und das Gewicht der Kampfbeladung reduzieren. Inzwischen dienen Soldaten vielerlei Geschlechter in den Streitkräften, weshalb sich die Handwaffen nicht nur an zahlreiche Ausrüstungskonfigurationen, sondern ebenso an zahlreiche Staturen anpassen lassen müssen. Einen weiteren Modernisierungsaspekt bildet der Wunsch zunehmender Vernetzung auf dem Gefechtsfeld.
Leider reicht es nicht aus, den Soldaten bloß neue Waffen und weitere tacticoole Gadgets in die Hand zu geben. Vielmehr zieht ein neues Handwaffensystem viele weitere Maßnahmen nach sich: Es gilt, neue Ersatzteile, Peripheriegerät und ggf. neue Munition zu bevorraten, Wartungs- und Instandsetzungsprozesse sowie die technischen Dokumentationen anzupassen. Ebenso muss man meist Waffen-, Schieß-, Taktik- und Technikausbildung modifizieren, oft einschließlich der Infrastruktur. Einen weiteren großen Raum nehmen überdies die Anpassungen von Lafetten, Waffenhalterungen und Verstaumöglichkeiten in Fahrzeugen und Infrastruktur ein. Kleinere Organisationen zeigen sich diesbezüglich meist etwas flexibler und können beispielsweise kürzere Erneuerungsintervalle anwenden oder Sonderlösungen beschaffen.
Dies gilt jedoch nicht für größere Organisationen wie Streitkräfte. Diese legen ihre Handwaffensysteme in der Regel auf lange Nutzungsdauern aus. Modernisierungen oder gar komplette Neubeschaffungen erfolgen meist erst nach tief einschneidenden technologisch-taktischen Umbrüchen oder wenn sich ein gerüstetes System nicht mehr ausreichend modernisieren oder gar versorgen lässt. Grundsätzlich ergeben sich drei Möglichkeiten, den Handwaffenbestand zu modernisieren:
- Aptierung/Modernisierung bzw. Kampfwertsteigerung vorhandener Bestände
- Beschaffung möglichst marktverfügbarer modernerer Systeme
- Oder Initiativen zur Neuentwicklung von Systemkomponenten bzw. ganzer Systeme
Aktuelle Neuanschaffungen von Sturmgewehr-Systemen in vielen Ländern weltweit
Derzeit laufen Sturmgewehr-Beschaffungen etwa in Estland, Frankreich, Deutschland, Luxemburg, Polen, Portugal oder Indien, ebenso in China und Russland. Weitere zeichnen sich in Schweden und Finnland ab. Dazu kommen Entwicklungsvorhaben wie das Next Generation Squad Weapon-Project der U. S. Army zur Ablösung der derzeit genutzen Handwaffengeneration. Betrachtet man die Vorhaben genauer, stellt man zunächst zahlreiche Konstanten fest.
Die Funktions- und Konstruktionsprinzipien der Sturmgewehre wandelten sich in den letzten Jahrzehnten nur wenig. Hinsichtlich der Funktion bilden die Gasdrucklader die größte Gruppe unter den Sturmgewehren. Wirken die abgezapften Gase dabei direkt auf den Verschlussträger, spricht man vom „direct impingement“. Im Gegensatz dazu gibt es die Gaskolbensysteme, die sich wiederum in solche mit langem oder mit kurzem Hub unterteilen lassen. Alle Gasdrucklader verriegeln meist über einen Drehkopfverschluss.
Hinsichtlich der Konstruktion bzw. Architektur lassen sich klassische Form, Pufferrohr-Form, Hybrid- und Modulsysteme sowie Bullpup voneinander abgrenzen. Bei der „klassischen Form“ befindet sich die Schließfeder auf einer Federführungsstange im Waffengehäuse, welches ein Bodenstück hinten abschließt. Bei dieser Architektur lassen sich nicht nur feste, sondern auch klappbare Schulterstützen montieren. Vertreter dieser „klassischen Form“ sind beispielsweise Beretta ARX-160 und ARX-200, B&T Advanced Police Carbine, das neue tschechische Standard-Sturmgewehr CZ805 und das CZ BREN 2, die FN SCAR-Familie oder auch das G36 von Heckler & Koch.
Bei einer Pufferrohr (Buffertube)-Konstruktion sitzt die Schließfeder in einem hinten an das Gehäuse angesetztem eigenen Rohr. Wesentlicher Vorteil der Buffertube-Architektur bildet das angenehmere Rückstoßverhalten, da der Rückstoß geradlinig in die Schulter läuft und das Puffersystem einen Großteil davon auffängt. Buffertube-Konstruktionen müssen allerdings ohne klappbare Schulterstütze auskommen, wodurch sie nicht ganz so kompakt ausfallen. Die Montage längenverstellbarer Schulterstützen auf dem Pufferrohr ist hingegen problemlos möglich. Prominentester Vertreter dieses Prinzips ist die von Eugene Stoner geschaffene Armalite Rifle (AR) 15-Architektur. Auf dieser legendären „Black Rifle“ genannten Konstruktion basiert das US-amerikanische Sturmgewehr M16 und die Kurzversion M4. Sie zählen nach wie vor zu den am meisten verbreiteten Sturmgewehren weltweit.
Hybrid- und modulare Systeme verbinden Eigenschaften der klassischen und der Bullpup-Konstruktion. Zudem lassen sie sich hinsichtlich Lauflängen, Kaliber und Bedienphilosophie anpassen. Jüngere Beispiele sind das MSBS „Grot“, das SIG MCX oder das HK433. Bei Bullpup-Waffen befinden sich Verschluss und Magazin hinter dem Pistolengriff in der Schulterstütze. Sie bieten den entscheidenden Vorteil, dass sie bei deutlich kompakteren Ausmaßen als ein klassisches oder Pufferrohr-Sturmgewehr einen mindestens gleichlangen Lauf aufnehmen und damit auf gleichwertige oder effektivere Reichweiten kommen. Als aktuelle Beispiele lassen sich das AUG, das F90, das SA80A3 oder das FAMAS nennen.
An den unterschiedlichen Architekturen orientiert sich das VISIER Special "Moderne Sturmgewehre", wenn es auf 100 Farbseiten einen umfangreichen Teil der aktuellen Waffen und Vorhaben vorstellt. Dabei lässt sich jedoch keineswegs der Anspruch auf Vollzähligkeit erheben.
Die Prinzipien des modernen Waffensystems "Sturmgewehr"
Unabhängig von Funktionsprinzipien und Architektur entwickelte sich in den letzten Jahren die Modularität zum Standard. Wie die anderen Elemente des infanteristischen Werkzeugkastens gilt das Sturmgewehr als System. Die NATO Army Armament Group und andere spezialisierte Zirkel verstehen unter einem solchen System die Waffe selbst als das „pars pro toto“. Dazu kommen Anbauteile, Munition und Schnittstellen zu Soldatensystemen. Die Bundeswehr griff diesen Ansatz in ihren Funktionalen Fähigkeitsforderung (FFF, oder auch Triple-F genannt) für das Vorhaben „System Sturmgewehr Bundeswehr“ (Sys StG Bw, Ausführlicheres hierzu ebenfalls im Sonderheft ab Seite 40) ebenfalls auf: „Es besteht aus der Basiswaffe mit Zubehör und verschiedenen Anbauteilen und Zielhilfsmitteln, die je nach Auftrag kombiniert werden. Im Verbund mit der Munition befähigt das Sys StG Bw den Soldaten zum Kampf, stellt seine Einsatzbereitschaft sicher und soll ihm eine Wirkungsüberlegenheit gewährleisten.“
In der Anforderung zum System Sturmgewehr Bundeswehr spiegelt sich eine Erkenntnis wider, die in der inzwischen abgekühlten heißen Debatte um das G36 in Vergessenheit geriet. Beim System Sturmgewehr handelt es sich wiederum um ein „pars pro toto“, nämlich um die Querschnittswaffe des infanteristischen Werkzeugkastens. Bis die querschnittliche Universalwaffe, die sich leicht und handlich wie ein Sturmgewehr führen lässt und welche mit der Präzision eines Scharfschützengewehrs trifft, nachdem sie als leichtes Maschinengewehr Dauerfeuer geschossen hat, zu einem günstigen Preis systemfähig marktverfügbar ist, entwickelt der Soldat im Gefecht seine volle Feuerkraft als gut ausgebildeter Kämpfer seiner Teileinheit, die über einen breiten Waffenmix verfügt. Bei einer modularen Mischbewaffnung bilden gleichartig zu bedienende, logistisch aufeinander abgestimmte Waffenfamilien, die verschiedene Kaliber verschießen können, den Kern.
Das sind die aktuellen Trends bei der Beschaffung von neuen Sturmgewehr-Waffensystemen
Einige Trends, die sich aus den gegenwärtigen Handwaffenprojekten ableiten lassen, sind in dieser Einleitung ins VISIER Special 110 kurz aufgeführt:
- Erstens: Vorerst – vermutlich mindestens die nächste Dekade – bleibt bei den Sturmgewehren der westlichen Streitkräfte der Kalibermix aus 5,56 x 45 mm und 7,62 x 51 mm Standard.
- Zweitens: Disruptive Schritte lassen sich in absehbarer Zeit eher bei Optik, Optronik, Feuerleitung und Vernetzung erwarten.
- Drittens: Neubeschaffungen bedeuten nicht den völligen Abschied von den bisherigen Arsenalen. So will die Bundeswehr das G36 als Reserve im Bestand behalten. Gleiches gilt für die schwedischen Streitkräfte, die einen gewissen Teil ihrer AK-4 und AK-5 behalten wollen.
- Viertens: Im Westen setzt sich derzeit die AR-Architektur weiter durch – allerdings vermehrt mit dem Kurzhub-Gaskolbensystem. Nicht nur HK, sondern auch andere Hersteller wie z. B. LMT Defense mit dem Rahe oder Sako mit dem M23 sind hier unterwegs.
- Fünftens: Es gibt wieder eine Entwicklung zu längeren Läufen oder zu einer Mischbewaffnung aus Kurz- und Langversionen.
- Sechstens: Zum System Sturmgewehr gehören immer öfter Schalldämpfer. Diese verschleiern den eigenen Standort – ein Vorteil, der sich gegenwärtig auf den urbanen Gefechtsfeldern und in den Grabenkämpfen der Ukraine zeigt.
- Siebtens: Die Produktion oder zumindest eine anteilige Wertschöpfung im eigenen Land bieten Vorteile, erhöhen sie doch die sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit und Glaubwürdigkeit.
Unverständlicherweise stuft nicht jeder Staat Handwaffen als nationale Schlüsseltechnologie ein. So mussten Neuseeland, Frankreich, Estland, Portugal, Dänemark, Luxemburg und weitere Staaten jüngst ihre Sturmgewehrsysteme aufgrund mangelnder eigener Kapazitäten im Ausland beschaffen. Andere NATO-Staaten hingegen können auf inländische Fertigungskapazitäten zurückgreifen. In Europa zählen hierzu etwa Belgien (FN Herstal), Italien (Beretta), Österreich (Steyr Amrs, GLOCK), Polen ( Fabryka Broni Lucznik Radom) oder Tschechien (Ceska Zbrojovka/CZ, inzwischen transatlantisch als Colt CZ Group unterwegs). Ungarn wählte CZ im März 2018 als Handwaffenlieferant aus. Das NATO-Mitglied legte aber Wert auf Know-How-Transfer und eigene Fertigung. So werden das Sturmgewehr CZ Bren 2, die Maschinenpistole Evo sowie die Hahnschloss-Pistolen P-07 und P-09 in Lizenz gebaut. Auch die NATO-Partnerstaaten Japan oder Australien besitzen mit dem Konzern Howa bzw. Lithgow Arms heimische Handwaffenhersteller.
Schon vor der Gründung der Bundeswehr am 12. November 1955, dem 200sten Geburtstag des preußischen Heeresreformers Scharnhorst, hatten die westdeutschen Verteidigungspolitiker Möglichkeiten zur Bewaffnung ihrer künftigen Streitkräfte evaluiert. Dabei war klar, dass moderne Handwaffen im eigenen Land hergestellt werden sollten. 60 Jahre später schafften es die Handwaffen dann in der Ägide teuer beratener Verteidigungspolitikerinnen und deren Entourage nicht auf die kurze Liste nationaler Schlüsseltechnologien.
Gleichwohl befanden sich bei dem Vorhaben System Sturmgewehr Bundeswehr zur Ablösung des G36 Produkte aus zwei traditionsreichen deutschen Waffenschmieden in der Endausscheidung: das MK556 von C.G.Haenel aus Suhl sowie ein weiter entwickeltes HK416 und das neu entwickelte HK433 von Heckler & Koch.
Am 9. Oktober 2020 hob das Bundesministerium der Verteidigung die Mitte September 2020 ursprünglich erteilte Zuschlagsentscheidung für das MK556 wegen möglicher Patentrechtsverletzungen auf. Nach endgültiger Klärung der Rechtslage erhielt das HK416A8 als G95 bzw. G95kA1 im Januar 2023 den Zuschlag.
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Die vollständige (hier gekürzte) Einleitung steht im neuen VISIER Special 110 "Moderne Sturmgewehre II", das bereits im Presse-Fachhandel oder im VS Medien-Shop zu kaufen ist. Hier finden Sie drei nützliche Links:
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