Das G36 in 5,56x45 mm NATO vom weltweit renommierten, schwäbischen Hersteller Heckler & Koch aus Oberndorf am Neckar wurde 1997 eingeführt und war nach dem definierten Anforderungsprofil auf eine 20-jährige Dienstzeit ausgelegt, die zumindest von den frühen Exemplaren der ersten Auslieferungskontingenten somit im Jahre 2017 ohnehin erreicht worden wäre.
Aktuell steht mit der Entscheidung des Verteidigungsministeriums nun aber auch fest, dass künftig auch keine modifizierte oder verbesserte HK G36-Ausführung im Dienst bei der Bundeswehr stehen wird.
Gewachsene Geschichte: Die Bundeswehr und Heckler & Koch
Heckler & Koch ist seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland "der" Hoflieferant der Bundeswehr. Schließlich wurde das Heckler & Koch G3-Sturmgewehr im Kaliber 7,62x51 mm NATO, ein automatischer Rückstoßlader mit feststehendem Lauf und beweglich abgestütztem Rollenverschluss, im Jahre 1959 bei der Truppe eingeführt. Als sich Ende der 1980er Jahre der Verfall des Warschauer Paktes abzeichnete und damit auch das über Jahrzehnte bestehende Feindbild in Luft auflöste, hatte das auch Konsequenzen für die deutsche Rüstungsindustrie. Das futuristische Heckler & Koch G11 für hülsenlose Munition im Mikrokaliber 4,73x33 mm sollte eigentlich das G3 im Kaliber 7,62x51 NATO ablösen, doch angesichts des verlorengegangenen Feindbildes und der damit gestoppten Rüstungsausgaben wanderte es in wehrtechnische Studiensammlungen.
1992 entschied man sich in Deutschland dazu, ein neues Sturmgewehr einzuführen, das die seit 1986 von der NATO zertifizierte Standardpatrone 5,56x45 verschießen sollte. Der Trend zum kleineren, impulsschwachen Kaliber zeichnete sich deutlich ab, weil europäische NATO-Partner wie England mit dem Enfield SA 80, Frankreich mit dem FAMAS oder Belgien mit dem FNC mit den USA und ihrem M16 bereits gleichgezogen hatten. Aus Budgetgründen sah eine Technische Forderung vor, nur nach bereits entwickelten Konstruktionen Ausschau zu halten. Zwei Gewehre, das österreichische Steyr AUG und das deutsche Heckler & Koch HK50, kamen in die engere Auswahl und wanderten zur wehrtechnischen Dienststelle 91 nach Meppen für umfangreiche Erprobungen. HK war durch das politisch veränderte Weltbild und dem somit gestorbenen G11-Großprojekt fast in die Insolvenz geraten und wurde vom britischen Konzern Royal Ordnance geschluckt. Da war das HK 50 eine willkommene Chance für die Rehabilitierung. Man kehrte dem Rückstoßlader mit halbstarren, beweglich abgestützten Rollenverschluss und Blechprägegehäuse den Rücken und setzte auf einen indirekten Gasdrucklader mit Kurzhub-Gaskolben-System und Drehkopfverschluss in einem stahlverstärkten Kunststoffchassis. Die Geburtsstunde des neuen Dienstgewehrs in 5,56x45 schlug dann am 8. Mai 1995, als der General der Heeresrüstung die Einfuhrgenehmigung für das G36 erteilte und damit das HK50 nach der internen Vergabe der Ordnungsnummern der Bundeswehr zum G36 adelte. Die symbolträchtige Übergabe erfolgte dann am 3. Dezember 1997 als der Direktor des Bundesamtes für Wehrtechnik und Beschaffung (BWB), Rüdiger Petereit, dem Kommandeur des Heeres-Unterstützungs-Kommandos, Generalmajor Reiner Fell, ein G36 überreichte und dies als "besonderen Abschnitt in der Bewaffnungsgeschichte" bezeichnete.
Zerrüttetes Verhältnis: was für eine Art von Waffe hatte die Bundeswehr bestellt?
Prinzipiell sollte man sich bei dem ganzen Medientrubel und die Diskussion rund um das G36 von Heckler & Koch vergegenwärtigen, dass dieses nach wie vor in einem sehr guten Preis-Leistungs-Verhältnis stehende Sturmgewehr zu einer Zeit eingeführt wurde, als "9/11", der internationale Kampf gegen den Terror und deutsche Soldaten im Auslandseinsatz in den Wüstenregionen von Afghanistan und Irak jenseits jeder Vorstellungskraft lagen. Heckler & Koch hat damals- in vergleichsweise friedlichen Zeiten - wie bestellt, gemäß den vereinbarten Spezifikationen geliefert. Zudem wird das Heckler & Koch Sturmgewehr in 55 Ländern geführt, davon in 35 NATO oder NATO-alliierten Staaten. Von diesen Kunden scheinen bislang keine Beschwerden vorzuliegen, so dass der ganze "Sturmgewehr-Skandal" eine rein innerdeutsche Angelegenheit darstellt. Allseits bekannt ist, dass sich ab etwa 2012 die Negativmeldungen in den Medien häuften, dass das heißgeschossene G36 so extrem streue, dass Gegner nicht mehr sicher bekämpft werden könnten. Dies führte in der Folge zu Debatten und unschönen Streitigkeiten zwischen dem Bundesverteidigungsministerium (respektive Bundeswehr-Beschaffungsamt) und dem Produzenten aus dem Schwarzwald. Die Behauptungen, dass das Sturmgewehr in extremen Auslandeinsatzbedingungen zu massiven Treffpunktverlagerungen neigen und somit keinen Leistungsfähigkeitsnachweis erbringen würde, bedeuteten für den für seine Ingenieurskunst renommierten Hersteller einen herben Imageschaden. Mit der waffentechnischen Seite der "G36-Affäre" hat sich all4shooters.com bereits im April 2014 auseinandergesetzt. Hier kommen Sie zum entsprechenden Beitrag.
Hier nur in aller Kürze: Die Bundewehr hat im März 2012 eine "Einsatznahen-Beschuss-Zyklus" (EBZ) als Standard festgelegt, in dem der gesamte Tagesvorrat von 150 Patronen in 20 Minuten verschossen wird. Auf Grundlage des EBZ hat der Hersteller hauseigene Versuche mit zehn verschiedenen G36 aus dem Fertigungszeitraum der Jahre 1996 bis 2008 unternommen, woraus der 134-seitige Untersuchungsbericht "Sturmgewehr G36 – Untersuchung zum Streuungs- und Treffpunktverhalten der Waffe im heiß geschossenen Zustand" entstand. Sicherlich gibt es im heißgeschossen Zustand wie bei jeder anderen Waffe physikalisch bedingt Streukreisvergrößerungen, da macht das G36 keine Ausnahme. Fest steht allerdings, dass solche Streukreiserweiterungen mit Treffpunktverlagerungen entgegen der tendenziösen Medienberichterstattung eher die Ausnahme als die Regel darstellen, wobei die verwendete Munition natürlich auch immer eine Rolle spielt (und auch die MEN DM 11 Doppelkernmunition in den Fokus der Kritik geriet). Es kam wie es kommen musste: Dennoch erhob das BW-Beschaffungsamt schließlich Gewährleistungsforderungen wegen der angeblichen Mängel und Hitzeproblematik des Dienstgewehres, weitere Tests von unabhängigen Instituten folgten und im April 2015 äußerte Ursula von der Leyen bereits erstmals, dass das G36 sofort ausgetauscht werden müsste.
Hausgemachter deutscher Sturmgewehr-Skandal?
Interessant in diesem Zusammenhang: Im Vorwort des jüngsten, abschließenden Untersuchungsberichts des Bundesamtes für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr (BAAINBw) erfährt das G36 wiederum teilweise Entlastung. Leider erhielten wir bis jetzt keinen Einblick in den Komplettbericht, doch selbst um das bloße Vorwort des Brigadegenerals Erich Könen, Abteilungsleiter Land-Kampf im BAAINBw, entbrannte ein politischer Streit.
So machten am 13. Mai 2015 Meldungen die Runde, dass Oppositionspolitiker dem Verteidigungsministerium vorwarfen, den Abschlussbericht für den Bundestag manipuliert zu haben, weil eben das Vorwort fehlen würde. Der Verteidigungsexperte der Grünen, Tobias Lindner, forderte von der Leyen auf, das Vorwort umgehend dem Verteidigungsausschuss zur Verfügung zu stellen. "Die Ministerin muss erklären, warum sie das Parlament nur unvollständig informiert hat." In der Folge sah man sich genötigt, das strittige Vorwort für jeden einsehbar online zu stellen. Im selbigen entdeckt man eine Passage, die an der Richtigkeit der Entscheidung, das G36 auszumustern, zweifeln lässt. Wir zitieren auszugsweise aus dem Vorwort:
"Zum Verständnis des Berichtes wird klargestellt, dass die Untersuchungen nicht zum Ziel hatten, eine Bewertung anderer funktionaler Eigenschaften des Sturmgewehrs G36 im Zusammenhang mit dem Gewicht, der Zuverlässigkeit oder der Funktionssicherheit vorzunehmen. Die Gefechtssituation „Hinterhalt“ wurde ausgewählt, weil sie als taktische Grundlage für die zu untersuchenden Effekte als „fordernde Gefechtssituation“ querschnittlich geeignet ist. Sie tritt in allen Intensitäts- und Befähigungsstufen auf. Der Hinterhalt ist eine Gefechtssituation, in die sowohl Kampf- als auch Einsatzunterstützungstruppen jederzeit geraten können. Der Soldat wird hier unmittelbar in ein Gefecht hoher Intensität gezwungen. Seine Eintrittswahrscheinlichkeit wird von den Streitkräften im Nachgang noch zu bewerten sein. Mit dem Untersuchungsergebnis erhalten die Streitkräfte Einblick in das Verhalten des G36 in einem technischen Grenzbereich, um daraus im Rahmen ihrer Betriebs- und Versorgungsverantwortung ihre Schlüsse für die Ausbildung und den Einsatz zu ziehen. Das G36 ist nach Auffassung der AG G36 iNU nach wie vor eine zuverlässig funktions- und betriebssichere Waffe. Eine Gefährdung für den Schützen durch das Gewehr G36 ist aus diesem Untersuchungsbericht nicht ableitbar und besteht bei Einsatz der Waffe weiterhin zu keiner Zeit."
Interessante Interimslösung – ebenfalls von Heckler & Koch
Als Zwischenlösung werden für den Sofortbedarf nun 600 Stück des G27P-Sturmgewehrs (auf Basis des HK 417 in 7,62x51 mm) sowie 600 leichte Maschinengewehre MG4 IdZ (Infanterist der Zukunft) in 5,56x45 mm von Heckler & Koch beschafft. Zum Ärger der Oppositionsparteien wie Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke, die von "Kumpanei" und vom "Bock zum Gärtner machen" fabulierten. Dabei macht diese ab November dieses Jahres startende und bereits Ende 2016 abzuschließende Beschaffung im Hinblick auf die bestehende Struktur und Logistik der Bundeswehr aber durchaus Sinn, weil die beiden Waffentypen ohne langwierige Erprobungsreihen oder andere einsatzbedingte Probleme direkt von den Soldaten in den Krisengebieten vor Ort genutzt werden können.
Aussichtsreiche Kandidaten für die Nachfolge des HK G36
Wie Ursula von der Leyen betonte, soll in im Rahmen eines offenen, transparenten Ausschreibungsverfahrens ein neues Sturmgewehr ausgesucht werden, das ab 2019 einsatzbereit sein könnte. Kleine Randnotiz: Die Türkei hat als erstes NATO-Mitgliedsland das MPT76 in 7,62x51 mm NATO eingeführt und schwört somit auf die leistungsstärkere, alte G3-Patrone. Ironie an der Geschichte: Das neue Sturmgewehr der Türken erinnert deutlich an ein HK 417 im identischen Kaliber. Davon ausgehend, dass sich bei der Bundeswehr auf breiter Ebene wohl kein Kaliberwechsel von 5,56x45 auf 7,62x51 mm NATO vollziehen wird, bleibt die Frage offen, welches neue 5,56er-Sturmgewehr als Ersatz für die rund 167.000 bei der Bundeswehr eingeführten HK G36 angeschafft werden wird? Die derzeit bei den NATO-Bündnispartnern im Dienst befindlichen Sturmgewehre dürften hierbei kaum in Betracht kommen.
Frankreich selbst sucht für das altgediente Bullpup-Gewehr FAMAS nach einem Ersatz und hat eine entsprechende Sturmgewehr-Ausschreibung initiiert. Das ebenfalls als Bullpup-Konstruktion konzipierte Enfield SA80 aus Großbritannien wurde im Heckler & Koch-Werk im Rahmen eines Vertrages modernisiert und überarbeitet. Die beiden europäischen Waffensysteme weisen ebenso wie das in Tage gekommene M16A4/M4A1 aus den USA Schwachstellen auf und dürften hinsichtlich Handhabung und Funktionszuverlässigkeit schlechter abschneiden als das HK G36. Sie sind somit kaum wirkliche Alternativen.
Im Reich der kompakten Sturmgewehre in Bullpup-Bauweise wären das österreichische Steyr AUG A3, das immerhin seit bald 40 Jahren im harten Militäreinsatz erprobt ist und einst schon in der engeren Auswahl der Bundeswehr stand, oder das jüngere, israelische IWI Tavor TAR21 schon eher von Interesse. Doch auch andere Mütter haben schöne Töchter und so könnten auch konventionell gebaute, aktuelle Sturmgewehre mit vor dem Abzug gelagertem Magazin Optionen darstellen. Dies könnten beispielsweise folgende Fabrikate sein (in alphabetischer Reihenfolge, ohne Anspruch auf Vollständigkeit): Beretta ARX 160, Remington Defense/Bushmaster ACR, Caracal 816S (in Deutschland bekannter als halbautomatische Zivilversion Haenel CR223), CZ 805 BREN A1, FN SCAR, SIG MCX oder Steyr STM 556. Sicherlich darf man in diesem Reigen aber auch nicht das HK416 A5 (alias G38) vergessen, das von amerikanischen und deutschen Eliteeinheiten bereits erfolgreich genutzt und als heißer Anwärter als M4-Ablöser bei den amerikanischen Streitkräften gehandelt wird.
Noch ist die Entscheidung über die Nachfolge des HK G36 völlig offen, aber wir hoffen, dass wir unseren Lesern mit diesem Überblick und diesem Hintergrundwissen eine gute Informationsbasis geben konnten für das, was zu diesem Thema von den Medien und aus der Politik noch kommen wird.
Wir halten Sie über aktuelle Entwicklungen auf dem Laufenden.
Hier kommen Sie zur Bildergalerie zum Bundeswehr-Sturmgewehr HK G36 und dessen Alternativen.