50. Jahrestag: Die Waffe CARCANO 91/38 und das John F. Kennedy-Attentat

Jeder von uns erinnert sich noch daran, was er am 11. September 2001 tat, als er die Nachricht von den Anschlägen in den USA erhielt. Für viele sicherlich ein Augenblick, den sie bis an ihr Lebensende nicht mehr vergessen werden. 

Eine Generation zuvor gab es mit dem Mord an John F. Kennedy schon einmal ein solches historisches Ereignis, das sich tief ins kollektive Gedächtnis vor allem der westlichen Welt gebrannt hat. Gerade um die Schüsse von Dallas in Texas grassieren mehr Theorien, als um die meisten anderen Ereignisse der letzten hundert Jahre. Trotzdem geht die etablierte Geschichtsschreibung heute davon aus, dass der Mörder von Präsident Kennedy ein Mann namens Lee Harvey Oswald war. 

Das CARCANO-Gewehr und das Kennedy-Attentat
John F. Kennedy und seine Frau Jackie kurz nach der Landung in Dallas.
Das CARCANO-Gewehr und das Kennedy-Attentat
L.H. Oswald, der vermeintliche Schütze, ließ sich von seiner Frau im Garten fotografieren. Mit der CARCANO und zwei kommunistischen Tageszeitungen.

Verschwörungstheorien hin oder her, die VISIER-Redaktion hat sich folgende Fragen gestellt:

Was war das eigentlich für eine Waffe, dieser CARCANO 91/38, den Oswald benutzt haben soll? Was ist das für eine Waffenfamilie? Was für ein Sammelfeld? Und vor allem: Wären die drei Schüsse, von denen offiziell ausgegangen wird, innerhalb kürzester Zeit aus der Waffe möglich gewesen? 


Die wichtigsten Daten zur Waffe des Kennedy-Attentats

vom 22. November 1963:

Laut der offiziellen Darstellung benutzte Lee Harvey Oswald die Kurzgewehr-Variante CARCANO Modell 91/38, bestückt mit einem japanischen No-Name vierfach Zielfernrohr. Ob Oswald überhaupt über das Zielfernrohr oder über die offene Visierung schoss, ist ein Punkt, an dem sich die Forschung bis heute uneins ist.

Die genaue Bezeichnung der italienischen Waffe lautet Fucile di Fanteria, Modello 91/38. Oswalds Waffe mit der Seriennummer C2766 verließ im Jahr 1940 die königlich-italienische Waffenfabrik in Terni. Knapp ein Jahr vor dem Mord hatte Oswald die Waffe unter dem Pseudonym „A. Hidell“ bestellt. Zusammen mit einem SMITH & WESSON „Victory“-Revolver in .38 Special, beides bei einem Versandhandel aus einem Inserat in der US-Zeitschrift „American Rifleman“. 

Das Gewehr wird wegen des Laderahmens ähnlich dem System Mannlicher oft falsch als „Mannlicher-CARCANO“ bezeichnet. Entwickelt wurde es 1890 von Salvatore CARCANO. Er war zu dieser Zeit Chefingenieur im Turiner Armee-Arsenal. Die Waffe wurde in mehreren Varianten bis 1945 produziert - zwischen zwei und drei Millionen Mal insgesamt.

Die Italiener führten hauptsächlich Versionen im Kaliber 6,5 x 52 mm CARCANO. Als weitere Kaliber gab es 8 x 57 IS, sowie 6,5 x 50 mm Arisaka. Gefüttert werden die CARCANOs mittels en bloc Laderahmen, ähnlich denen des Gewehr 88.

Nach wiederkehrenden Klagen über die mangelnde Leistungsfähigkeit der 6,5 x 52 mm entwickelten die Italiener für die Karabiner-Variante 91/83 das Kaliber 7,35 x 51 mm. Dieser Patrone war nur ein knappes Produktionsjahr beschieden. Die italienische Rüstungsindustrie war schlichtweg nicht imstande, unter Kriegsbedingungen auf das neue Kaliber umzurüsten. 

1940 stellte man die Produktion deshalb wieder auf das alte Kaliber um. Auch Oswalds Waffe war deshalb für die  6,5 x 52 mm eingerichtet. Nach den tödlichen Schüssen testete das FBI die Waffe ausgiebig und befand: „It‘s a very accurate weapon“ (also: Das ist eine sehr präzise Waffe).


Wer war L.H. Oswald und was ist technisch überhaupt möglich?

Um die drei Schüsse auf Kennedy zu verstehen, muss man sich zunächst Oswalds Hintergrund anschauen. Er diente von 1956 bis 1959 im US Marine Corps (USMC). Hier erreichte er bei den regelmäßigen Schießprüfungen zunächst den Rang eines „Sharp-shooter“, als er 48 und 49 Treffer auf einem 200 Yards (183 m) entfernten Ziel unterbrachte. Am Ende seiner Dienstzeit verschlechterten sich seine Leistungen etwas. Er wurde zum „Marksman“ herabgestuft. 

Daraus sollte man allerdings nicht schließen, dass Oswald ein schlechter Schütze geworden war. Das Marine Corps dürfte heute wie damals die beste Schützenausbildung aller US-Teilstreitkräfte bieten und geboten haben; auch bei einem Marksman handelt es sich immer noch um einen sehr guten infanteristischen Schützen. 

Oswald arbeitete im Schulbuch-Lagerhaus von Dallas. Sein Standort während des Attentats war ein Fenster im fünften (nach amerikanischer Zählweise sechsten) Stock des Gebäudes. Die Distanz beim ersten Schuss betrug 53 Meter bis zur vorbeifahrenden Präsidentenlimousine. Das zweite Projektil musste 73 und das dritte 81 Meter zurücklegen. 

Kennedy-Attentat 1963: Nach Auswertung von Zeugenaussagen und Videomaterial kam das FBI zu folgendem Ergebnis

 

  • Der erste Schuss traf John F. Kennedy in den oberen Teil des Rückens, verletzte die Wirbelsäule und trat am Hals wieder aus. Das Geschoss traf den vor Kennedy sitzenden texanischen Gouverneur John Connally in die Lunge.
  • Der zweite Schuss verfehlte offenbar sein Ziel komplett.
  • Das dritte Geschoss traf den Hinterkopf des Präsidenten und durchschlug ihn.

 

Und die Zeit, die der Attentäter Oswald zum Abfeuern der Schüsse benötigte? Da sind sich die Experten extrem uneins. Ihre Angaben schwanken zwischen 4,8 und 7,9 Sekunden, wobei manche Forschungsergebnisse auch einen noch längeren Zeitraum angeben.

Nach dem Attentat ließen sowohl das FBI als auch das Ballistik-Labor der US-Army die Schüsse durch Profi-Schützen rekonstruieren. Auch der Fernsehsender CBS führte im Jahr 1967 eigene Tests mit mehreren Sportschützen und Polizisten durch. All diese Versuche kamen mehr oder weniger eindeutig zu dem Ergebnis, dass ein Alleintäter wie Oswald durchaus in der Lage gewesen wäre, die Schüsse in der erforderlichen Zeit anzubringen. 

Vor allem, wenn er ein routinierter Schütze war und man von drei abgefeuerten Schüssen ausgeht. Die nach dem Attentat ermittelten Daten dienten auch für den VISIER-Test als Grundlage. Abseits von diversen Theorien über mögliche und unmögliche Flugbahnen von Oswalds Geschossen stand für VISIER nur eine Frage im Raum: Ist es möglich, innerhalb der vorgegebenen Zeit, drei gezielte Schüsse abzugeben? 

 


 

Das VISIER Experiment mit der "Tatwaffe":

Das Experiment vollzogen zwei geübte Gewehrschützen ohne Erfahrung im schnellen Schuss mit Repetierern. Im Unterschied zu Oswalds Schüssen lief der Versuch auf dem Schießstand komplett auf 100 Meter Entfernung ab. 

Als erste „Übung“ luden die Tester einen leichtgängigen Laderahmen mit sechs Patronenattrappen und „feuerten“ dann in verschiedenen Anschlägen auf die 100m-DSB-Scheibe. Die Tester stoppten die Zeit vom ersten bis zum dritten Klick des vorschnellenden Schlagbolzens. Hierfür benötigten sie durchschnittlich fünf Sekunden. Die schnellste Serie lag bei 4,5 Sekunden. 

Oswald feuerte vom Fenster des Buchdepots schräg nach unten. Daher gingen die Tester davon aus, dass er entweder kniete oder auf einem Stuhl saß und das Gewehr im Fensterrahmen auflegte. Folgerichtig lief dann auch der Test im scharfen Schuss im sitzenden Anschlag. 

Jeder Schütze gab vier Dreierserien mit Fabrikmunition von NORMA auf 100 Meter Distanz ab. Dabei verwendeten sie 156-Grains-Teilmantelgeschosse. Im Mittel benötigten sie für die drei gezielten Schüsse 7,7 Sekunden. Geht man davon aus, dass die erste Patrone schon im Lauf ist, brauchten die Tester für den zweiten Schuss inklusive Nachladen 3,4 und für den dritten 4,3 Sekunden. Hier notierten die Prüfer, dass man sich auch zum Schutz der Schießstand-Technik zurückgehalten habe.


Mit diesen Schüssen kamen Trefferbilder von durchschnittlich 150 Millimetern zustande. Allerdings gab es auch Gruppen, die auf 52 Millimetern zusammenlagen. Geht man davon aus, dass Oswald nur 4,8 Sekunden für die Schüsse benötigte, kommen die Tester zu dem Ergebnis: 

„Ein geübter Scheibenschütze schafft mit kurzem Training unmöglich drei präzise Schüsse in zirka fünf Sekunden (...) Ein wirklich mit dem CARCANO und seinen Eigenheiten vertrauter und scharf gedrillter Kämpfer muss wesentlich schneller sein, als wir es sein konnten.“. 

Hier kann man nun vermuten, wie weit Oswald mit seinem CARCANO trainiert war. Er lebte im Staat Texas. Dort boten sich ihm wohl einige Möglichkeiten, ohne Zeugen in der Wildnis zu schießen. Alleine von diesem Aspekt aus betrachtet, hätte Oswald also durchaus mit seinem CARCANO viele Testschüsse abgeben und sich mit den Eigenheiten des Repetierers vertraut machen können. 

Freilich - das unterstrichen die Tester - hemmten die Regularien eines deutschen Schießstandes die Versuchsmöglichkeiten. Jedoch haben auch schon andere Personen ähnliche Experimente durchgeführt, die man auf der Internet-Videoplattform Youtube sehen kann. 

Wie bei den VISIER-Testern lautet hier der Tenor: Oswald hätte als trainierter Schütze durchaus die drei Schüsse und zwei Treffer auf Kennedy anbringen können. Alles Weitere jedoch wäre pure Spekulation.

Das CARCANO-Gewehr und das Kennedy-Attentat
Beim CARCANO Karabiner schließt eine geschmiedete Kappe mit Putzzeug-Klappe den Schaft ab. Im Schaftholz die Seriennummern.
Das CARCANO-Gewehr und das Kennedy-Attentat
CARCANO: Die geriffelte Handhabe hinten am Schloss muss zum Sichern der Waffe nach vorn und oben gedrückt werden.

CARCANO - italienischer Schrott? Mitnichten!

Wir haben die Waffe getestet:

Die CARCANO-Reihe hat in Deutschland einen unterirdischen Ruf. Miese Verarbeitung, schlechte Trefferleistung, schwache Patrone... Im Heimatland des K 98k kommen die italienischen Repetierer trotz fast 100 Jahren Dienstzeit, allein in Italien, auf keinen grünen Zweig. 

Anfang der 1990er wurde hierzulande sogar eine erhebliche Anzahl der Gewehre zu Stehlampen umgearbeitet - ein trauriges Los für eine Waffe. Selbst wenn die Vorwürfe stimmten, was sie aber nicht tun. 

Für diesen Artikel nutzten die Tester zwei CARCANOs. Zum einen den Karabiner 91/38, zum anderen dessen Nachfolger 91/41. Beide begeisterten mit butterweichen Abzügen, einhellig bewertet als „wesentlich besser als durchschnittliche 98er Abzüge“

Die Buchenholz-Schäfte boten keinen Anlass zur Kritik. Die Passungen bewegten sich auf zeitgenössischem Militär-Niveau. Und auf den immer wieder angeführten Vorwurf mangelhafter Stabilität sei erwidert: Viele CARCANOs wurden auf 8 x 57 IS umgebaut und in der damaligen BRD beschossen. Von Waffensprengungen hat man nichts gehört. Lediglich die Visierung taugt für das Scheibenschießen weniger, weil eine vernünftige Höhenverstellung fehlt. Hier muss man aber auch den militärischen Hintergrund des CARCANO im Auge behalten. 


Die CARCANO-Modellreihe im Überblick:

Bauzeit:
1891-1945
Stückzahl:
Zwei bis drei Millionen. Insgesamt zehn Hauptvarianten für das italienische Militär ergeben ein reichhaltiges Feld für Ordonnanzwaffen-Sammler. 
Dabei laden die Preise mit 150 bis 220 Euro gerade dazu ein, sich mit dieser Baureihe einmal näher zu befassen.

Die Modelle: 

  • Fucile di Fanteria Modello 1891 (Grundmodell von 1891 mit 780-mm-Lauf)
  • Moschetto da Cavalleria Mod. 91 (Kavallerie-Karabiner mit Klapp Bajonett und 450 mm-Lauf. Eingeführt 1893) 
  • Moschetto per Truppe Special Mod. 91 (Eingeführt 1897. Karabiner mit 450-mm-Lauf für MG- und Mörserbesatzungen)
  • Moschetto di Fanteria Mod. 91/24 (Umbauten von Original Mod. 91 zu Karabinern mit 450-mm-Lauf aus dem Jahr 1924)
  • Moschetto per Truppe Speciali Mod. 91/28 (leicht abgeänderte Mod. 91 Karabiner)
  • Moschetto per Truppe Speciali con Tromboncino Mod. 91/28 (Mod. 91/28 mit 38,5 mm Granatwerfer)
  • Fucile di Fanteria Mod. 1938 (Kurzgewehr aus dem Jahr 1938 im Kaliber 7,35 x 51 mm mit 531-mm-Lauf)
  • Moschetto Mod. 1938 (Klapp-Bajonett) und Mod. 1938 TS (abnehmbares Bajonett) Karabiner-Varianten des Mod. 1938 mit 450-mm-Läufen
  • Fucile di Fanteria Mod. 91/38 (Modell 1938 Kurzgewehre im Kaliber 6,5 x 52 mm ab 1940)
  • Fucile di Fanteria Mod. 91/41 (Letzte Version von 1941, Infanteriegewehr mit 691-mm-Lauf)
  • Typ I Infanterie-Gewehr in 6,5 x 50 mm Arisaka: Ein echter Exot unter den CARCANOs. Er wurde in Italien für die kaiserlich-japanische Marine gefertigt. Die Waffe nutzt das CARCANO-Verschlusssystem, ähnelt aber mit seinem fünfschüssigen Kastenmagazin ansonsten eher dem ARISAKA-Gewehr.

Lothar Buchholz - ein deutscher Kennedy-Experte im Interview:    

Das CARCANO-Gewehr und das Kennedy-Attentat
Lother Buchholz: Labyrinth der Wahrheiten - Todesschüsse auf Kennedy

Über den Mord an Präsident John F. Kennedy gibt es eine schier unüberschaubare Anzahl von Büchern. 

Die meisten davon stammen freilich von amerikanischen Autoren. Doch auch hierzulande befassen sich Leute mit Hintergründen und Theorien des Attentats. Einer davon ist Lothar Buchholz. Aus seiner Feder stammen gleich mehrere Bücher zum Fall Kennedy.

VISIER: Herr Buchholz, in den USA ist der Kennedy-Mord ja eine nationale Angelegenheit, aber wie kommt man als Deutscher dazu, sich so intensiv mit dem Thema zu befassen wie Sie?

Ich habe 1998 den Spielfilm „JFK - Tatort Dallas“ gesehen. Die Sache war klar: Kennedy wurde ermordet, um den Krieg in Vietnam zu ermöglichen. Ich habe dann begonnen, die wenige deutsche Literatur zu lesen, anschließend auch englischsprachige Bücher. Hier war die Sache dann überhaupt nicht mehr so klar: Verschwörung oder doch Einzeltäter? Ich wollte es genau wissen. Deshalb begann ich, Originaldokumente aus den US-Nationalarchiven zu studieren. Daraus resultierten dann drei Bücher. Mein neuestes Buch erscheint in diesem November und ergänzt das Buch „Labyrinth der Wahrheiten - Todesschüsse auf Kennedy“ mit neuen Erkenntnissen.

VISIER: Welchen Standpunkt vertritt die US-Regierung heutzutage, wer für das Attentat verantwortlich ist?

Die 1964 eingesetzte Regierungskommission kam zu dem Ergebnis, dass Lee Harvey Oswald allein gehandelt hatte. Von seinen insgesamt drei Schüssen trafen zwei Kennedy. Für diese Schüsse war der Einsatz des Zielfernrohrs erforderlich. Nach Ansicht der Kommission wurde das Gewehr erst dadurch zu einem präzisen Mordinstrument. Tests des FBI beweisen aber, dass das vermeintliche Attentatsgewehr erst dann präzise Testschüsse ermöglichte, nachdem die Visiereinrichtung justiert worden war. Die zwischen zwei Schüssen mindestens erforderliche Zeit - ohne Zeit zum Zielen - betrug 2,3 Sekunden. Eine parlamentarische Untersuchungskommission von 1979 korrigierte dann die Ergebnisse ihres Vorgängers. Demnach handelte es sich jetzt um eine Verschwörung, bei der mindestens vier Schüsse abgegeben worden waren. Bei den Schüssen kam zum Zielen jetzt nur noch Kimme und Korn zum Einsatz, die erforderliche Zeit zwischen zwei Schüssen wurde erstaunlicherweise auf 1,6 Sekunden herabgesetzt.

Mehr Informationen zu Lothar Buchholz und seinen Büchern finden Sie im Internet: www.kennedy-attentat.de


Die Erkenntnis der VISIER-Tester 

CARCANO - das sind solide Gewehre, um Längen besser als ihr Ruf. Mit der richtigen Laborierung schießen die Italiener tadellose Gruppen. Ein Gewehr für extrem schnelle, präzise Schussabfolgen ist die CARCANO jedenfalls nicht.

Geschichtswissen: Der genaue Tathergang und die Hintergründe des Attentats auf Präsident John F. Kennedy bleiben weiterhin unklar. Oswald wurde nur wenige Tage nach dem Tod von Präsident Kennedy selbst erschossen.